Biodiversität im naturnahen Garten

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Die Coronakrise hat uns fest im Griff und überdeckt damit andere Themen, die weitaus größere Relevanz für unser Leben haben (werden). Während wir bald über wirksame Impfstoffe gegen diese Pandemie verfügen werden, halten wir für Themen wie Klimawandel oder Artensterben keine Gegenmittel parat. Das Gegenteil ist der Fall: Immer schneller rollen Ereignisse auf uns zu, die unsere Existenz wesentlich stärker beeinträchtigen werden. Dabei gäbe es durchaus schon jetzt Abhilfe, um die Folgeschäden zu mindern. Gegen das Artensterben, zum Beispiel, können wir mit naturnahem Grün im Allgemeinen und Naturgärten im Speziellen ziemlich viel wieder gut machen.

Damit wir uns richtig verstehen und nicht in die überall aufgestellte Falle laufen: Wenn wir von naturnahem Grün sprechen, sind damit nicht irgendwelche einjährigen Blühmischungen aus dem Gartencenter, Geschäftemacher-Rezepte aus dem Netz oder insektenfreundliche Pflanzen aus der örtlichen Gärtnerei, sondern echte heimische Wildpflanzen in nach ökologischen Gesichtspunkten gestalteten Grünanlagen gemeint. Womit wir mitten im Thema wären. Naturgärten können dazu beitragen, die massiven Verluste des Artensterbens zumindest für bestimmte Arten des Siedlungsraumes zu reduzieren.

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Naturnahe Gärten als Beitrag zu Artenschutz

Hat eine Gartenparzelle Einfluss auf heimische Wildtiere in der Gegend? Mehr noch: Kann ein Garten entscheidend zum Überleben von Tierarten in der Stadt beitragen? Vermag er sogar ein Hort für seltene Arten zu sein? Anders gefragt: Erhöht ein entsprechend angelegter Garten die Biodiversität des Standortes? Als Antwort hierfür: dreimal Ja! Vorausgesetzt, dort wachsen viele heimische Wildpflanzen und es gibt eine Vielzahl heimischer Lebensräume, Strukturen und Bauwerke wie Trockenmauern, Totholz, Dachbegrünung, Blumenwiesen, Trockenstandorten und einem fischfreien Naturteich.

Man kann diese Erfahrung eigentlich nur selber machen. Es ist schwer zu vermitteln, wie sehr sich der Garten verändert, wenn wir nichtheimische Pflanzen durch heimische ersetzen. Es sind viele kleine und kleinste Erlebnisse, die uns zeigen, welche große ökologische Bedeutung unsere Wildpflanzen haben. Selbst in winzigen Gärten finden sich plötzlich Tiere ein, die vorher nie gesehen wurden. Naturnahe Gärten und mit ihnen das naturnahe Grün haben inzwischen einen unwahrscheinlich hohen Stellenwert erhalten. Wenigstens 2866 Tierarten oder sage und schreibe 6 Prozent unserer heimischen Flora kommen dort vor (s. Tabelle/Artenzahlen). Im Stadtgrün leben mehr Tierarten als draußen in der Feldflur. Und das nur als Spitze des Eisberges, weil es Zufallszahlen sind und es keine generellen wissenschaftlichen Untersuchungen darüber gibt, wer, was und wie viel tatsächlich im naturnahen Grün existieren kann. Mit anderen Worten: Naturnahe Gärten sind wichtig als Zufluchtsort, Stützpunkt und Ausgangsbasis für die freie Landschaft. Während dort die Artenzahlen rapide schrumpfen, bemerken wir im Siedlungskonglomerat Zunahmen. Und, legen Naturgärtner und Naturgärten noch an Zahl und Wirkungskraft zu, dann werden Gärten mit heimischen Wildpflanzen einen entscheidenden Überlebensbeitrag zum Artenschutz leisten.

Klein, unauffällig, unbekannt

Die meisten der Gartengäste sind sehr klein und fallen kaum ins Auge. Sie gehören zum Heer der Pflanzenfresser. Nur mit Mühe können selbst Fachleute die Vielzahl der Blattnutzer, Saftsauger, der Blütenbesucher und Fruchtfresser auseinanderhalten. Es braucht dafür jeweils Spezialisten, die sich mit den 103 Arten Blattwespen auskennen oder 220 Arten von Wildbienen notfalls anhand der Geschlechtsorgane bestimmen können.

Doch es gibt ein untrügliches Zeichen für den Wert der heimischen Flora, der selbst Laienzoologen ersichtlich ist: Angefressene oder verschwundene Blätter. Naturgärtner freuen sich darüber, wenn die Blätter der Salweide angeknuspert sind und stellen sich höchstens noch die Frage, war das unser Nachtpfauenauge oder der C-Falter der Nachbarn?

Das Paradebeispiel für den hohen Wert der heimischen Wildflora stellen unsere Wildrosen. Sage und schreibe 103 Insektenarten leben davon, darunter 31 Kleinschmetterlinge und 33 Blattwespen. Jede heimische Wildrose bedeutet also einen Riesenschritt in Richtung Artenvielfalt. Mit bestimmten Futterpflanzen können wir erwünschte Tiere in den Garten locken. Ein einziger Faulbaum in der Hecke oder am Teichufer reicht manchmal schon, um den Faulbaum-Bläuling zu Eiablage zu locken. Wer etwas für den Gewöhnlichen Bläuling tun will, sollte eine Magerwiese anlegen, auf der wilder Hornklee vorkommt.

Mit den Pflanzenfressern stellen sich die räuberischen und parasitischen Arten von alleine ein. Hierzu gehören Spinnen, Grabwespen oder Schlupfwesen. Sie weisen faszinierende Lebensgeschichten auf. Und natürlich kommen dann auch die Frösche und Kröten, Molche und Eidechsen, Säuger und Vögel in unsere Gärten zurück, die wir lange Zeit durch sterile Bepflanzungen vertrieben haben.

Echte Lebensräume schaffen

Das beste Rezept für hohe Artenvielfalt in Natur-Erlebnis-Gärten und -Räumen heißt: Lebensräume schaffen. Eine Vielfalt von Biotopen mit einer Vielfalt von Wildpflanzen garantiert reiches Tierleben. Da jeder Lebensraum dabei neue Pflanzen und Nutzer anzieht, summieren sich die Artenzahlen schnell. Auf Blumenwiesen können wir 30 bis 50 Pflanzenarten ansiedeln, in Wildblumenbeeten zwischen zehn bis 150. Hinzu kommt die Hecke mit 15 bis 25 verschiedenen Wildsträuchern und einem Wildblumensaum aus 25 Arten. Sie sehen: Ohne Schwierigkeiten schaffen wir auf einem nicht allzu großen Grundstück Platz für über 100 Wildpflanzenarten. Legen wir unsere biologische Faustformel zu Grunde, nach der von einer heimischen Wildpflanze wenigstens zehn heimische Tierarten leben können, entsteht damit Lebensraum für wenigstens 1000 Tierarten.

Neue Leitbilder gefragt

Der politische Artenschutz ist in meinen Augen grandios gescheitert. Zu viele kennen immer noch nicht die Roten Listen, die verlässlich den kontinuierlichen Niedergang unserer Flora und Fauna dokumentieren. Und die UN-Dekade der Biodiversität von 2011 bis 2020, ausgerufen von der Bundesregierung, hat auch das Ziel verfehlt. Doch Tatsache ist, dass die Artenvielfalt eben nicht nur in Amazonien, sondern gerade bei uns vor der Haustür erschreckend abstürzt. Intensivland- und Forstwirtschaft, ungebremste Flächenversiegelung durch noch eine zerstörerische Autobahn und noch ein Gewerbegebiet, daneben invasive Neophypten und anderes machen Bläuling und Distelfink den Garaus. Und immer mehr sind daran auch wir Gartenbesitzer beteiligt, durch uniformes Allerweltsgrün aus Baumarktländereien.

Wir brauchen dringend neue Leitbilder für den Naturschutz, für unseren Siedlungsraum. Was wir aber nicht noch mehr brauchen, sind politische Ansagen, deren Erfüllung (klitzekleiner Nachteil!) die Aufgabe zukünftiger Generationen ist. Wir brauchen innerhalb weniger Jahre erreichbare Ziele. Konkrete Ziele. Sagen wir bis 2025! Deshalb an dieser Stelle der Versuch, neben einem neuen Leitbild auch neue Leittiere zu etablieren. An denen nämlich können wir unseren Fortschritt in unbestechlicher Weise messen.

Das neue Leitbild heißt: Natur überall im Siedlungsraum: Privatgärten, öffentliches Grün, Schulhöfe, Spielplätze, Gewerbebauten und Straßenränder sollten vorrangig unter nachhaltigen Gesichtspunkten gesehen werden. Ein Blick in mein Buch "Nachhaltige Pflanzungen und Ansaaten" beweist: Nachhaltiges Grün bedeutet fast einhundertprozentig heimische Wildpflanzen. So gewinnen Mensch und Natur: Lebensqualität und Leben.

Retten Naturgärten Arten?

Was bedeutet es, wenn im Naturgarten von Familie Mendes in der Schweiz ein Blaukehlchen rastet? Wenn im Garten Norbert Steiningers Dunkle Wiesenknopf-Ameisenbläulinge vorkommen wie anderswo Kohlweißlinge? Wenn in ausgeräumten Landschaften Laubfrösche ausgerechnet in Naturgartenteichen zum Leben ausrufen? Wenn Kalle Niehus´ Naturgarten Ausbreitungszentrum für Laubfrösche für die von ihm mit Hecken wiederbepflanzte Landschaft geworden ist, ja er sogar Feuersalamander sein eigen nennt? Wenn Distelfinken in nahezu jedem Naturgarten als Standard gelten. Wenn Grauschnäpper immer häufiger brüten, genau dort, wo es durch naturnahes Grün und sensible Pflege wieder Insekten gibt?

Sollen wir jetzt lachen oder weinen? Weinen, weil Naturgärten die letzte Bastion von Natur sind, wo sich Tiere wohlfühlen, anderswo dem Untergang geweiht? Oder müssen wir lachen, weil wir flächendeckend bemerken, dass Naturgärten und naturnahes Grün im Siedlungsraum inzwischen ein dermaßen essentieller Beitrag zum Artenschutz geworden sind. Wichtiger denn je zuvor? Nein, Naturgärtner sind keine versponnenen Ökoromantiker, die den Tatsachen nicht ins Auge blicken. Die Lebenssituation der meisten Wildtiere und Pflanzen in freier Landschaft ist brutal. Über die Hälfte steht bundesweit auf Roten Listen gefährdeter Arten - da zwei Drittel der Lebensräume für eben diese Arten bedroht sind. Als Biologen wissen wir, dass angesichts des nationalen Artensterbens Karl Heinz Niehus' Rettungsaktion für den Löhner Laubfrosch oder Norbert Steiningers für Bamberger Gelbbauchunken nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein bedeuten. Mit Einzelaktionen können wir die Gelbbauchunken Deutschlands nicht grundsätzlich vorm Aussterben bewahren. Nur ein bisschen. Wenigstens die in Bamberg! Denn Naturgärtner sind nebenbei immer auch Artenschützer.

Naturgärtner als Artenschützer?

Im naturnahen Grün entdecken wir eine unglaubliche, wissenschaftlich noch zu klassifizierende Biodiversität. Durch die ausführlichen Recherchen zum Buch "Natur für jeden Garten" habe ich in 20 beispielhaften Naturgärten Deutschlands, Österreichs, der Schweiz und in Frankreich gefunden: Naturgärten sind Tiergärten. Bläulinge sind fast schon garantiert. Dort leben aber auch Nashornkäfer, Hirschkäfer, Zaunwickensandbienen, Großes Grünes Heupferd oder Winterlibellen und sogar Prachtlibellen. Nicht zu reden von Ödlandschrecken, Sandlaufkäfern oder Weg- und Grabwespen, Lehmwespen, Gichtwespen, Edelkrebse, Laubfröschen, Kammmolchen, Zaun- oder Mauereidechsen, Ringelnattern, Schnecken-Mauerbiene, Holzbienen, Grün- und Schwarzspecht, Glühwürmchen, Mauswiesel und Fledermäuse. Vergessen wir einmal im menschlichen Maßstab zu werten und schauen fasziniert zu, wenn der Eisvogel als erste Rote-Liste-Art kurz an unserem Naturteichsteg Stopp macht, um die zweite Rote-Liste-Art zu fangen, den Kammmolch. Und das, obwohl daneben auch bedrohte Nicht-Rote-Liste-Amphibien wie Berg- oder Teichmolch geschwommen wären, leider nicht so fett. Das ist weder gut noch böse, sondern einfach Natur. Außerdem stellen wir fest: Eisvögel interessieren sich nicht für ihren Rote-Liste-Status, sie haben einfach Hunger.

Selten ist der Wert eines Gartens so gut quantifiziert wie beim Tübinger Wildbienenforscher Paul Westrich. Er erfasste auf seinen 500 m² in sechs Jahren sagenhafte 115 Wildbienenspezies bei einem Wildpflanzenangebot von 220 Arten. Lisa und Klaus Standfuss, die in Dortmund an einer mehrspurigen Stadtautobahn leben, konnten Wildbienenforscher Westrich sogar noch toppen: 121 Wildbienenarten in einem nur 900 m² großen Grundstück mit bemerkenswerten 900 Pflanzenarten - quasi auf jedem Quadratmeter eine neue.

Wenn ein Stadtgarten, im Zentrum Dortmunds, getrennt durch die achtspurigen Verkehrsader B1, ein (H)Ort der Artenvielfalt sein kann, was könnten dann mehr solcher Naturgärten, noch mehr naturnahes öffentliches Grün, noch mehr naturnahe Gewerbegebiete und Firmengelände sein? Diese Beispiele von Naturgärtnern und Naturgärten, meine eigenen Erfahrungen und die meiner Kollegen verleiten dennoch nicht zu Slogans wie "Alles ist machbar!" oder "Wir können das!". Eher zum Gegenteil. Dennoch zeigt dieser Erfahrungsschatz Unglaubliches: Wie wichtig jedes auch noch so kleine Reststück naturnahes Grün ist, selbst ein paar Quadratmeter Garten als Überlebensraum, Rückzugsgebiet, Versteck, Futterkammer. Kurz: Orte zum Sein. Ich kenne genug Naturgärten, in denen Tierarten, die es ringsherum kaum noch gibt, wieder ins Leben gekommen sind, ja dort ihren kompletten Lebenszyklus absolvieren können. Laubfrosch, Gelbbauchunke, Zaun- oder Mauereidechsen, Bläulinge, Aurorafalter, Wollbiene, Schnecken-Mauerbiene, Zaunkönig, Rotkehlchen, Grauschnäpper. Ich kenne genug Naturgärten, in denen besondere Tiere immer und immer wieder zu Besuch kommen, weil sie sich dort heimisch fühlen, Distelfinken, Goldammer oder Gartenrotschwänze nur als Beleg. Doch ich bin nicht so naiv anzunehmen, dass wir in einem noch so großen Naturgarten genug tun könnten für Schwalbenschwänze, Schwarzspecht oder Blaukehlchen. Das sind Arten mit wesentlich größerem (Lebens-) Raumanspruch und weiterem Aktionsradius. Diese Arten brauchen freie, natürliche Landschaften oder wenigstens ein Mosaik aus vielen kleinen Naturflächen zum Leben. Und wie halten wir es jetzt mit dem Blaukehlchen im Garten der Familie Mende? Ich für meinen Teil freute mich wie ein Schneekönig, hätte ich es nur einen Tag seines Lebens satt bekommen.

Retten Naturgärten Arten? Wir sind nicht so anmaßend zu glauben, dass Naturgärten diese Welt retten können. Erst Recht keine gefährdeten Tiere und Pflanzen. Aber wir alle können mit unserer Arbeit und dem Stück Land, das wir der Natur zurück schenken, ein klein wenig zur Besserung des Fiebers dieses Planeten beitragen.

Literatur

Buchtipps

  1. Aufderheide, Ulrike: Tiere pflanzen: Faszinierende Partnerschaften zwischen Pflanzen und Tieren. 18 attraktive Lebensräume im Naturgarten gestalten.
  2. Kaltofen, Katrin/Witt, Reinhard: Klimawandel - Fluch oder Chance?: Erfahrungen & Lösungen aus naturgärtnerischer Praxis.
  3. Witt, Reinhard: Natur für jeden Garten. Das Einsteiger-Buch. 10 Schritte zum Natur-Erlebnis-Garten. Planung, Pflanzen, Tiere, Menschen, Pflege. Mit Biodiversitäts-Test.
Dr. Reinhard Witt
Autor

Freiberuflicher Biologe, Journalist und naturnaher Grünplaner

Reinhard Witt - Fachbetrieb für naturnahe Grünplanung

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