Kommentar
Eine Frage der Haftung
von: Prof. Dipl.-Ing. (FH) Martin Thieme-HackAuf beiden Seiten des Stegs prangte ein übergroßes laminiertes Schild mit großen Ausrufezeichen "Vorsicht – bei Nässe rutschig". Eigentlich war ich im ersten Moment in meinen Gedanken sprachlos. Was denken die Menschen im Hunsrück eigentlich über Wanderer? Halten die mich für blöd? Natürlich ist Holz mitten im schattigen Wald trocken oder rutschig. Was denn sonst?
Dann wurde mir aber klar, dass vermutlich die Gemeinde, die verantwortlich für die "Michels Vitaltour" ist, gerade verklagt worden ist von einem Wanderer, der hier gestürzt ist. Aber wer kommt denn auf die Idee, jemanden zu verklagen, wenn er auf einem Weg im Wald ausrutscht und damit tatsächlich "auf dem Holzweg ist".
Hier ist es der § 823 BGB, aus dem die Rechtsprechung eine umfangreiche Verkehrssicherungspflicht entwickelt hat, eine deliktsrechtliche Verhaltenspflicht zur Abwehr von Gefahrenquellen, deren Unterlassen zu Schadensersatzansprüchen führen kann. Wir kennen das von regelmäßigen Kontrollen an Bäumen, Spiel- und Sportanlagen oder von der Überprüfung der Gehwege auf Stolperstellen, die eine Gemeinde in Haftung bringen kann, wenn der Absatz zwischen den Platten größer als 3 cm ist. Der Gedanke, dass der Fußgänger einfach nicht aufgepasst hat und selbst schuld ist, den gibt es scheinbar in der Gesellschaft nur noch selten.
Ein sehr häufiger Begriff, welcher in den Projektbesprechungen der Planungsbüros verwendet wird, ist "Prüf- und Hinweispflicht". Wurde dem Auftraggeber ausreichend erklärt, dass Bauen mit Risiken verbunden ist? Zwar gilt der öffentliche Auftraggeber als fachkundig, aber im konkreten Fall kann er dann doch nicht wissen, dass in einer Versickerungsfläche schon mal Wasser steht, dass die Früchte von Corylus avellana Allergien auslösen können, dass eine fehlende Gebäudeabdichtung zu eindringendem Wasser führen kann. Aus Sorge vor einer Fehlentscheidung wird gerade bei den öffentlichen Auftraggebern einfach keine Entscheidung getroffen. Was bekanntermaßen zu noch größeren Problemen führt.
Am schlimmsten sind die Hausgartenkunden. Sachverständige wissen, was ich meine: Wenn einem bäuchlings auf dem Pflaster liegend kaum sichtbare Kratzer auf den Platten angezeigt werden, wenn der Rasen umgegraben wird und tatsächlich im Oberboden Steine gefunden werden, wenn der Holzzaun entgegen der Wunschvorstellung auf der geneigten Fläche stufig hergestellt wurde und trotzdem die Kaninchen nicht abhalten kann. Alles Dinge, die selbstverständlich mit Hilfe der Rechtschutzversicherung eingeklagt werden.
Kürzlich hat mir eine junge Teamleiterin der Management-Beratungsfirma McKinsey im Alter meiner Kinder vorgehalten, was meine Generation denn erwarten würde. Wenn wir unseren Kindern von klein auf eingeredet haben, etwas Besonderes zu sein, eigentlich alle eine Hochbegabtenförderung brauchen und wenn mal was schiefläuft, doch alle anderen die Schuld haben, die Lehrer, der Chef, die Politik. Irgendwie hat sie recht.
Ihr Martin Thieme-Hack