Flüchtlinge 1945/46

DIE FLÜCHTLINGE wurden immer zahlreicher. Kaum eine Kommune war darauf vorbereitet. „Neuer Transport für den Kreis Lemgo“, hieß es in der Lokalzeitung, „die Elendsbilder werden immer schrecklicher.“ Der enorme Zustrom sei „eine böse Saat für die Zukunft“, lautete ein Kommentar. Hier ist nicht die Rede von Deutschland im Spätsommer/ Frühherbst 2015, sondern von unserem Land 1945/46. Die Flüchtlinge stammten aus Schlesien, dem Sudetenland, Pommern und Ostpreußen. Und es kamen nicht 800.000 Menschen, sondern 11 900.000. Die Einheimischen reagierten panisch, beschimpften die Fremden. Sie galten als ungebildetes Landvolk. In Schleswig-Holstein hieß es, „rassemäßig“ seien die Neubürger „artfremd in Norddeutschland“. Rheinische Karnevalslieder fanden den Gedanken witzig, die Vertriebenen „kaputtzuschlagen“, wenn sie nicht freiwillig wieder gingen. Ein Rheingauer Winzer empfahl Flüchtlingen sogar, „nach Auschwitz in den Kasten“ zu gehen. Es ist das Verdienst der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, daran jetzt erinnert zu haben. Das Ende dieser größten Migrationsbewegung in der Menschheitsgeschichte ist bekannt: Deutschland schaffte es. Vor allem die Vertriebenenkinder beeindruckten mit großem Schulerfolg. Weil die Flüchtlinge alles hinter sich gelassen hatten, waren sie sich für keine Arbeit zu schade, und bereit, für den Beruf in den letzten Winkel zu ziehen. Es geschah das Wirtschaftswunder. Nicht zuletzt dank einer Bevölkerung, von der jeder fünfte ein Zuwanderer war.

Christian Münter