Bäume auf Deichen und Dämmen

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Deiche Baumumfeld
Abb. 1: Canal du midi in Südfrankreich, seit 1661, allein 44.000 Platanen säumen 240 Kilometer. Foto: Lothar Wessolly

In jüngster Zeit wurden mehrere Konfliktfälle öffentlich, bei denen es um bestehende Deiche mit Baumbestand ging. Es ist immer derselbe Streitpunkt: die Behörden meinen, die Bäume entfernen zu müssen, die Bürger wollen diese erhalten. Der Grund des Konflikts: die Verwaltung ist der Auffassung, sich auf den sogenannten Stand der Technik verlassen zu können und meint dabei die einschlägige DIN 19712 (2013) oder DWA (2011). Darin steht forsch, Bäume auf Deichen seien "unzulässig" (unter der Hand hat diese DIN dann doch noch ein paar Schlupflöcher parat).

Ist dieses Regelwerk wissenschaftlich oder juristisch belastbar? Nach Auffassung der DIN-Organisation muss sie es nicht sein. Zur Erhellung gehe man einmal auf ihre Homepage unter "Mitglied im DIN Ausschuss". Da ist von Interessen die Rede, nicht von wissenschaftlicher Fundiertheit. So können unter Umständen sogar Jahrhunderte alte Vorurteile deutscher Wasserbauingenieure gegen Bäume auf Deichen überdauern. Währenddessen die Kollegen in Frankreich schon seit 350 Jahren mit hunderttausenden von Bäumen auf landesweiten Dämmen Erfahrung bis auf den heutigen Tag haben. Damals und eine gute Weile danach war Deutschland noch ein Flickenteppich von Kleinstaaten und zu so großen Wasserbauwerken nicht in der Lage. Aber nicht nur Frankreich, auch die Niederlande, Belgien, England und Polen besitzen die Erfahrung tausender Kilometer baumbestandener Wasserstraßen seit Jahrhunderten. Auch in Deutschland gibt es beispielsweise den nicht ohne Grund vor 70 Jahren baumbepflanzten Rheindeich Neuss oder die eichengesäumte Störwasserstraße ohne Sicherheitsprobleme. Zusätzlich wäre eine internationale Sicht zielführend und beim Erhalt anderer baumbestandener Dämme hilfreich..

Eine DIN ist kein Gesetz, sondern nur eine Empfehlung

Eine DIN ist also lediglich eine rechtsunverbindliche Empfehlung. In einer DIN stehen auch keine verantwortlichen Autoren. Sie wird von einer anonymen Arbeitsgruppe erstellt, die gegebenenfalls einseitig qualifiziert ist und den Stand von Wissenschaft und Technik auf einem ebenfalls von ihren Regeln betroffenen fremden Fachgebiet nicht kennt. Bei einem von vielen Fachgebieten bestimmten Thema führt das unter Umständen zu einer unangemessenen DIN. Gleichwohl formulieren dann Planer ohne nähere Begründung über einen bestehenden und bewährten Deich: "Dies entspricht nicht dem vorgeschriebenen Regelprofil." Von wem vorgeschrieben? Eine Empfehlung ist keine Vorschrift. Und eine Empfehlung muss durch speziellen Sachverstand fundiert ergänzt werden.

Regelwerke können hilfreich sein, aber sie können auch schaden. Denn es liegt in der Natur der Sache, in einer Regel den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Das kann auch grob danebenliegen. Denn es führt bei Aufgaben mit vielen Einflussfaktoren dazu, den speziellen Begebenheiten vor Ort bei weitem nicht gerecht zu werden. Ergebnis ist dann Plattenbau statt angepasster Architektur. Eine auf die örtliche Begebenheit zutreffende Lösung ist immer zielführender und kann bei gleicher Sicherheit, hier im Hochwasserschutz, sogar kostengünstiger sein.

Das Schädigungspotential eines Baumes

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Bäume zu den größten natürlichen Konstruktionen gehören. Das bedeutet auch, dass durch sie sehr große Belastungen entstehen können, denn sie ragen in einen potentiellen Sturm, der über den Hebelarm "Stamm" erhebliche Kräfte in die Verankerung im Boden einleitet. Dem Deichbauer ist es natürlich lieber, wenn sein Bauwerk so etwas nicht ertragen müsste. Aber Bäume haben sich so entwickelt, dass sie diese hohen Kräfte über das Geflecht ihrer Wurzeln so im Boden verteilen, dass bei Orkanwindstärken keine Überbeanspruchung erfolgt. Das gilt nahezu für jeden Standort und für den intakten Baum. Auch für Deiche und Dämme. Von diesem Sachverhalt profitieren die Landschaft, unsere Städte und Parks. Ohne das wäre, sie öd wie eine Stadt in der Wüste. Gleichzeitig ist der Baum ein lebender Organismus, der begleitet werden muss, damit er einem nicht entgleitet und Schaden anrichtet.

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Stand von Wissenschaft und Technik

In der Wissenschaft gibt es den analytischen rechnerischen Nachweis oder das Ergebnis eines Feldversuchs. Dass Baumwurzeln einen Deich sicherer machen können, haben wir exemplarisch am mit etwa 500 Rosskastanien und Linden bestandenen Rheindeich Neuss nachgewiesen. Das kann man als singuläres Ergebnis abtun, nicht jedoch den 350 Jahre alten Feldversuch mit Hunderttausenden von Bäumen an und auf den Dämmen der innereuropäischen Kanäle. Anfangs war diese Symbiose sogar wesentlich für den Betrieb dieser Transportbauwerke. Man brauchte die Bäume und lernte auch mit deren potentiellen Problemen umzugehen. Das gilt bis heute, obwohl man die Bäume nicht mehr zum direkten Betrieb braucht. Man hätte sich ihrer also entledigen können. Hat es aber nicht.

Mehrtausendjährige Erfahrung mit Deichen und Dämmen

Deiche und Dämme aus Erdmaterial dienten spätestens seit der Entstehung des Ackerbaus dazu, Wasser zu kanalisieren, zu leiten oder zu verhindern, dass Wasser dorthin gelangt, wo man es nicht haben will. Man hat also eine mehrtausendjährige Erfahrung mit ihnen.

Im 17. Jahrhundert begann man besonders in Großbritannien und dann in Frankreich damit, den Handel durch Kanäle zu fördern. Gegenüber den vierrädrigen Pferdefuhrwerken mit 2 Tonnen Transportlast ließen sich wesentlich größere Lasten bis 60 Tonnen mit der gleichen Zugleistung transportieren. Man baute hunderte von Kanälen, und die Pferde zogen nun Lastkähne.

Bäume als Windschutz

Allerdings war das nicht ohne weitere Überlegungen umzusetzen. Neben dem Wasser gibt es noch ein weiteres Medium, das auf diese Art des Transportes einen Einfluss hat: der Seitenwind. Denn bei diesen geringen Geschwindigkeiten der Pferde von 3 Kilometer pro Stunde konnte kein hydrodynamisches Ruder bei starkem Seitenwind am Schiff gegensteuern. Der Wind drückte einfach den Kahn ans leeseitige Ufer. Man musste also dafür sorgen, dass der Wind von der Wasserstraße fernblieb. Hier diente eine höhere Vegetation auf beiden Seiten des Kanals für Windstille auf der Wasserstraße. Das waren Büsche und Bäume, die bis an den Kanal standen und ihn auch mit ihren Wurzeln erreichten.

Bäume als Schattenspender

Noch ein weiteres Problem galt es zu minimieren. Die heiße Sonne davon abzuhalten, die Wasserstraße und damit die Pferde oder die vielleicht verderbliche Ware auf dem Kahn zu erreichen. Auch Wasserverluste durch Verdunstung spielten eine Rolle. Man schaute auf den Straßenbau und fand dort, dass schon die alten Römer ihre Straßen mit Pinien säumten, um ihre Soldaten frisch zu halten. Die Händler und die Pferdefuhrwerke profitierten dann so nebenbei. In Frankreich nahm man hier häufig Platanen und der Name Allee zeigt die Bestimmung. "Denn allez heißt marschieren!" Die Soldaten sollten möglichst frisch am Zielort ankommen. Das schauten sich die Kanalbauer ab und säumten ihre Kanäle mit Bäumen, die einen Schirm über der Wasserstraße aufbauten.

Canal du midi - Ein Paradebeispiel für baumbestandene Kanäle

Es war im Jahr 1661, als die Erbauer des 240 Kilometer langen Canal du midi 190.000 Bäume pflanzten und sogar spezielle Baumschulen gründeten, die die 42.000 benötigten Platanen für die direkte Dammbepflanzung aufzogen. Dort stehen auch nach 350 Jahren beidseitig Platanen auf der Dammkrone und geben der Landschaft ein so eindrucksstarkes Bild, sodass der Kanal gerade wegen der Bäume Weltkulturerbe ist. Aber das ist nicht die einzige baumbestandene Wasserstraße in Frankreich (auf youtube kann man alle spazierenfahren).

Kanäle müssen wie die Wasserwaage im Lot liegen. Der Kanal besteht somit aus einem optimierten Gleichgewicht zwischen Geländeeinschnitten und Geländeerhöhungen mittels Dämmen.

Es gibt in Frankreich 67 baumbestandene Binnenkanäle mit insgesamt 9000 Kilometer Länge. Schätzungsweise davon ein Drittel als Dämme, das sind 3000 Kilometer. Man hat also mehrhundertjährige Erfahrungen an mehreren Tausend Kilometern mit Millionen von Bäumen. Aber nicht nur Beschattung und Windschutz waren der Grund. Schon dem Erbauer des Kanals war bewusst, dass sich die Tragfähigkeit von Erde durch eine Durchwurzelung verbessern ließ. Dokumentiert ist, dass der Erbauer des Canal du midi 1661 ganz gezielt Bäume und Wasserlilien hierfür anpflanzen ließ. So wie ein Sack auch den Sand zusammenhält. Eigentlich eine Binsenweisheit. Besonders für Wasserbauer.

(Vermeintlich) negative Einflüsse von Bäumen

Dämme und auch Hochwasserdeiche haben grundsätzlich die gleiche Funktion. Sie unterscheiden sich nur dadurch, dass man bei Hochwasserdeichen an Flüssen eventuelle Strömungen und Überströmungen berücksichtigen muss - was durchaus möglich ist. Darüber hinaus können vom Wasser umströmte Bäume durch Kolkbildung einen negativen Einfluss haben. Dies ist natürlich dort zu berücksichtigen, wo die Gefahr besteht. Sie existiert allerdings nicht bei Bäumen direkt auf oder hinter der Deichkrone, solange diese nicht überströmt wird. Aber das Bemessungshochwasser soll die Überströmung ja gerade verhindern.

Bis zur Ablösung der Kanäle durch die Eisenbahn waren Bäume und Deiche in ihrer gegenseitigen Funktionsabhängigkeit miteinander verbunden. Man musste also damit klarkommen, dass Bäume auch Schäden anrichten können. Sie können entwurzelt werden, den Kanal blockieren oder ein Loch in den Kanaldamm reißen und er könnte daraufhin trockenfallen. Auch der sogenannte Pipe-Effekt, das Abfaulen einer den Kanaldamm horizontal durchdringenden Wurzel, ist trotz des mehrhundertjährigen Feldversuches an Tausenden von Kilometern in Frankreich nirgendwo dokumentiert. Wenn es diesen Phantomeffekt überhaupt gäbe, hätte er reihenweise zum Trockenfallen von Kanälen führen müssen. Gleichwohl geistert er in den Regelwerken der deutschen Wasserbauer bis heute, um gegen Bäume in Deichnähe zu sein. Auch der hierfür von Lammeranner (3) zitierte Haselsteiner (18) bringt keinen Nachweis, sondern verweist ganz allgemein, dass wissenschaftliche Untersuchungen und Erkenntnisse auf diesem Gebiet rar sind. Man könnte auch festhalten: nicht existieren. Wieso spukt das immer noch in den Regelwerken?

In der neuesten DIN wird in dem Zusammenhang lediglich ein einzelner Theoretiker mit einem Beitrag von 1999 (in 15) zitiert, der zum Pipe-Effekt niemals eigene Untersuchungen betrieben hat und in der DIN zitierten Stelle lediglich drei undeutliche Schwarz-Weiß-Fotos eines Dritten zeigt. Wissenschaftlich belastbar ist das nicht. Stattdessen ist er in mehreren Feldern der Baumsicherheit mit Hypothesen in Erscheinung getreten, die sich im Nachhinein als unhaltbar herausstellten, was sogar der Ombudsmann der Deutschen Forschungsgemeinschaft nach eingehender Prüfung 2006 festgestellt hat.

Das Märchen von Dammbrüchen durch Bäume an Elbe und Oder

Angesichts der jahrhundertelangen Erfahrung mit Bäumen auf Deichen erstaunt es umso mehr, dass es immer noch diese Widerstände gibt. Dabei wird kolportiert, das sei nach den Erfahrungen an Oder und Elbe ein Paradigmenwechsel. Aber nirgends ist nachgewiesen, dass Bäume für einen Dammbruch verantwortlich gewesen wären. Es gibt bis heute dazu keine wissenschaftlichen Nachweise. Auch Schüttauf, H. hat in seiner Analyse der Dammbrüche an Oder und Elbe 2002, 2013 nichts gezeigt, was den Baum aus Verursacher ausgewiesen hätte.

Historische Baumfeindschaft von Wasserbauern

Den Hintergrund erhellt ein Zitat aus einem im Jahr 1967 erschienenen Buch "Der biologische Wasserbau an den Bundeswasserstraßen", herausgegeben von der Bundesanstalt für Gewässerkunde Koblenz. So heißt es auf S. 287:

"Ich wusste, dass die Wasserbauer mehr als ein Jahrhundert lang zu einer gewissen Baumfeindschaft neigten. Hinter dem Baum am Wasser bildet sich ein Kolk, der Baum fällt um, er treibt vor die nächste Brücke, das Unheil ist fertig. Die Wurzeln eines solchen Baumes wachsen durch die Dichtung des Damms zum Wasser hin; der Baum stirbt, die Wurzeln verfaulen, durch die von ihnen gebildeten Kanäle dringt das Wasser in Damm und Ufer und bringt sie zum Einsturz. Der Wind rüttelt an dem Baum, der auf dem Damm steht, er lockert dessen Gefüge, das nächste Hochwasser nimmt ihn mit. Auch Männer, die ich schon 20 Jahre früher als geniale Ingenieure kennengelernt hatte waren diesem 'Aberglauben' widerstandslos verfallen."

Diese Quelle ist jetzt mehr als 50 Jahre alt, mithin existiert die unbegründete Baumfurcht der deutschen Wasserbau-Ingenieure schon 150 Jahre. Auch riet er schon damals, nach Frankreich zu schauen und die dortigen Erfahrungen einzubeziehen.

Aber in der DIN steht das immer noch so. Nicht erst neuerdings wegen der sogenannten Erfahrungen beim Oder- und Elbehochwasser, wie unrichtigerweise von Seiten der Verwaltung, im Falle der Rheindammsanierung in Mannheim vom Regierungspräsidium Karlsruhe, vorgetragen wird.

Stand- und Bruchsicherheit eines Baumes ist berechenbar

Heute können moderne Computer die Kombination eines nur druckbelastbaren Mediums wie Sand oder Erde, mit einem zugbelastbaren Element wie den Baumwurzeln, berechnen. Bei der Untersuchung des am mit 486 Bäumen bestandenen Rheindeich in Neuss wurde diese Methode durchgeführt. Dabei wurde festgestellt, dass der Deich mit den Bäumen 30 Prozent stabiler ist als ohne Baumbestand. Und der Störwasserkanal in Mecklenburg brach vor ein paar Jahren genau dort wo keine Eichenwurzeln ihn halten konnten. Was bei den Meisten noch nicht angekommen ist: Bei der Sicherheitsbeurteilung der Bäume wurden in den letzten 30 Jahren Quantensprünge erreicht. Heute ist im Baummanagement-Standard, Stand- und Bruchsicherheit eines Baumes belastbar messen zu können und die Verantwortung dafür langfristig zu übernehmen. Dann erübrigt sich, den Lastfall Baumwurf mit Standardkratern (von unzutreffenden 1,5 m Tiefe) bei der Deichberechnung nachweisen zu müssen.

Sicherheitsmanagement durch Baumkontrolle

An Straßen, Plätzen und Parks im öffentlichen Grün wird genau diese Baumkontrolle zum Nutzen der Stadtgestaltung und der Umwelt erfolgreich umgesetzt. Auch dort ist ein umgefallener Baum nicht akzeptabel. Aber er wird zum Wohl der Menschen nicht verbannt, sondern gemanagt.

Europa ist viel zu dicht besiedelt, als dass man sich den Luxus eindimensionaler Lösungen auf Kosten des Allgemeinwohls leisten könnte. Gerade vor dem Hintergrund der CO2-Diskussion oder auch der wohnungsnahen Erholungsmöglichkeit wie jetzt bei der Corona-Situation eklatant deutlich geworden ist, sollte jeder mögliche Baumstandort genutzt werden, auch im Bereich von Kanälen und Flussdeichen.

Bei Sturmflutdeichen verhält es sich völlig anders. Hier erfolgt ein starker Wellenschlag gleichzeitig mit einem Orkan. Hinzu kommt, dass ein Flussdeich nach Hochwasserwahrscheinlichkeiten bemessen wird. Das gleichzeitige Auftreten dieses Ereignisses mit einem ebenso der Wahrscheinlichkeit ausgelieferten Orkanereignis dürfte noch eine Wahrscheinlichkeitsstufe niedriger liegen. Des Weiteren gibt es das kontinuierliche Sicherheitsmanagement der klassischen, bewährten Baumkontrolle und eingehenden Baumuntersuchung (7) zur Gewährleistung der Verkehrssicherheit nach § 823 BGB. Im Sinn des Allgemeinwohls sollte hier unbedingt ein Umdenken erfolgen.

350 jährige, europäische Erfahrungen nutzen

Deutsche Ingenieurkunst sollte sich europäisch öffnen. Sie sollte in ihren Regelwerken der Öffentlichkeit angemessene Hinweise geben, die die Anforderungen der Neuzeit beispielsweise den Schutz des öffentlichen Grüns dadurch Rechnung tragen, dass die jeweilige Situation vor Ort auf höchstem technischen Niveau interdisziplinär gelöst werden kann. Das sollte insbesondere dort gelten, wo Bäume schon heute auf Dämmen und Deichen stehen.

Mehr noch: Die Verantwortlichen sollten den Mut aufbringen, wo möglich, auch die bestehenden Dämme und Deiche systematisch mit geeigneten Bäumen zu bepflanzen und sich dafür die Jahrhunderte alten Erfahrungen unserer europäischen Nachbarn zunutze machen. Wie dargelegt, lassen sich diese Erfahrungen heute mit technischen Programmen untermauern.

Was nicht geht: ein vorhandenes Deichmaterial eines überdimensionierten Deiches durch Bohrungen zu bestimmen, um dann festzustellen, dass es bei einem optimierten Normdeich nicht reicht. Das funktioniert natürlich nicht. Ist das Material schwächer, braucht es für die gleiche Tragkraft also mehr davon. Andernfalls kommt zwangsläufig ein unsicherer Deich heraus. Die gängige Formulierung heißt dann, dass der vorhandene Deich nicht mehr dem Stand der Technik entspräche.

Warum erbringen die Planer keinen Einzelnachweis des "schlechteren" Materials mit den vorhandenen größeren Dammquerschnitten? Mit etwas mehr Rechenaufwand würde man sich erhebliche Kosten und Ärger sparen. Das Merkblatt der Bundesanstalt für Wasserstraßen (BAW) gibt hier die Empfehlung, wenn der Deich den Mindestquerschnitt übertrifft. 2011, S. 15. Allerdings geht die Empfehlung zum einen von einer unzutreffenden Wurzeltiefe von 1,5 Meter aus: Bäume wurzeln flacher. Und zum anderen lässt sich die Windwurfgefahr mit inzwischen entwickelten Kontrollverfahren, wie in den üblichen Bereichen der Verkehrssicherungspflicht im öffentlichen baumbestandenen Bereich verlässlich ausschließen (6). Es bedarf dazu nur eines verantwortlichen Sicherheitsmanagements. So können auch ganz normale Bäume, wie zum Beispiel beim Canal du Midi seit 350 Jahren praktiziert, eingesetzt werden.

Beispiele für Deiche und Dämme mit Bäumen

Neuss

Hier stehen 450 Rosskastanien und Linden absolut frei von einem Orkan erfassbar beidseitig des Deichkronenweges auf mehr als 2 Kilometer Länge. Sie wurden dort in den 30er-Jahren bestimmt nicht ohne ernsthafte deichbauliche Überlegungen gepflanzt. Jetzt sind sie als Naturdenkmal ein Stachel im Fleisch der Deichverantwortlichen. Das hat zwangsläufig dazu geführt, näher hinzuschauen.

Eine Eingehende Untersuchung im Jahr 2002 mittels verletzungsfreien baumstatischen Methoden, den Zugversuchen, einem Ausreißversuch, der Ausspülung des gesamten Wurzelwerkes einer Rosskastanie, der Bestimmung der Materialkennwerte, der Wurzelverteilung und der damit gefütterten Deichberechnung eines wasserbaulichen Spezialbüros ergab, dass der Rheindeich mit Bäumen 30 Prozent standsicherer als ohne ist (4). Eine Stabilisierung von Deichen durch Baumwurzeln räumt auch Haselsteiner ein (19). Der Pfingstorkan 2014 ELA, bei dem das auf der anderen Rheinseite liegende Düsseldorf 10.000 Bäume verlor, zerstörte mit gleicher Wucht auf dem exponierten Rheindeich in Neuss verschwindend wenige Bäume, ohne den Deich ernsthaft zu beschädigen. Eine Nachkontrolle im Oktober 2019 hat ergeben, dass zwischen 2002 und 2019 inklusive ELA genau die Menge von 50 Bäume verloren gegangen waren, die schon 2002 im Deichgutachten als nicht ausreichend sicher eingestuft waren. Man kann also mit einem fundierten Sicherheitsmanagement mit baumstatischen Methoden wie zum Beispiel dem Zugversuch an verdächtigen Bäumen ausschließen, dass unversehens einer umfällt und den Deich beschädigt. Schon 2002 war festgestellt worden, dass die Verwurzelung besser war als die Bruchsicherheit. Denn beim Entwurzelungsversuch war der Baum gebrochen. Ein Baummanagement, wie es von jeder Stadt betrieben wird, kann ausschließen, dass der Lastfall Baumausbruch in Hochwasserfall jemals rechnerisch im Vorfeld nachgewiesen werden muss. Ein Vorteil ist auch das dichte vernetzte Wurzelsystem, hier der Rosskastanien, das auch einer Strömungserosion wesentlich mehr Widerstand entgegensetzt als die gängige Grasnarbe (1) Lammeranner S. 126. Insofern grenzt es an Fahrlässigkeit, für die Deichsicherheit ausgefallene Bäume nicht mehr zu ersetzen, wie dort jetzt gängige Praxis. Ganz zu schweigen davon, dass eine einmal aufgerissene Allee dem Sturm eine deutlich größere Angriffsfläche als vorher bietet.

Störwasserkanal in Mecklenburg-Vorpommern

Hier stehen an einer der ältesten Kanäle in Deutschland beidseitig Eichen. Der Kanal musste saniert werden. Eine Bürgerinitiative unter Beteiligung von K. Dujesiefken setzte den Erhalt der Eichen durch. Die Sanierung wurde von einem Baumfachmann Chr. Hagen zusammen mit einem Deichspezialisten erfolgreich durchgeführt (3). Davor war ein Dammbruch genau an der Stelle zu beklagen, an der keine Eichenwurzeln den Damm stabilisierten.

Mannheim

Der Damm in Mannheim ist zwar ein Hochwasserschutzdamm an einem Fließgewässer, dem Rhein. Die Besonderheit ist: Im Deichbereich ist der Damm etwa 1 Kilometer vom Prallhang in Ludwigshafen entfernt. Bei Überflutung entsteht ein ebenso breiter See, so dass an der Deichseite keine Strömung stattfindet, bei der ein Baum auf der Flussseite umströmt würde. Zudem ist dieser See baumbestanden, was zusätzlich eine Wasserströmung beruhigt. Da eine Auskolkung und damit Zerstörung der Deichoberfläche nur bei Strömung und nicht bei einem stehenden Gewässer möglich ist, entfällt hier dieser Gefahrenpunkt.

Auch der Wurf auf dem Damm durch ein Sturmereignis ist nicht zu befürchten, da die Dammbäume im Windschatten des vorliegenden Waldgebietes liegen. Durch Schäden an Bäumen entstehende Unsicherheiten können durch eine in Städten etablierte Baumkontrolle beseitigt werden.

Der Damm in Mannheim ist an vielen Stellen mit bis zu 10 Meter wesentlich breiter, als ein sogenannter Normdeich, der oben gerade mal 3 oder 5 Meter breit ist. Also besteht genügend Platz für die Bäume, selbst nach der DIN oder der BAW, welche die Zulässigkeit von Bäumen bei einer Überdimensionierung nicht mehr so kritisch sieht. Bäume haben auf diesen überdimensionierten Deich genügend Platz. Beispielhaft ist die Vorgehensweise des RP Karlsruhe, eine 12 Meter breite Deichkrone auf 3 Meter Breite der Regelbauweise rückzubauen (siehe Folie 23, 24 der Präsentation des RP Karlsruhe vom 14.06.2018). Auf Folie 26 ist die Dammkrone 8,5 Meter breit. Warum soll hier überhaupt eine Spundwand eingesetzt werden? Ebenso bei den Dammabschnitten auf den Folien 28 und 30. Fast die gesamte Länge des in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Dammabschnittes (2/3) ist überdimensioniert.

Bremen

136 alte Platanen stehen auf dem Deich, der das Ufer der kleinen Weser säumt. Auch hier wird festgestellt, dass der bestehende Deich kein Regeldeich sei, ohne wissenschaftlich darauf einzugehen, ob der bestehende Deich mit seiner Durchwurzelung durch die Platanen trotz relativ steiler Flanken nicht tragfähig genug sei. Stattdessen zieht man nicht tragfähige Argumente heran, die stehenden Platanen loszuwerden: Die Massariakrankheit würde den Altbäumen den Garaus machen. Dabei ist das nur eine natürliche Astreinigung und keine tödliche Krankheit.

Es besteht keine sicherheitstechnische Notwendigkeit, die Platanen zu entfernen. Eine notwendige Ertüchtigung des Deiches kann ohne die Gefährdung der Platanen erfolgen. Sollte eine Gefährdung des Deichkörpers durch Windwurf befürchtet werden, könnten haftungsbelastbare Verfahren der Baumstatik hier für Sicherheit sorgen (6). Die Elasto/Inclino-Methode (vulgo auch Zugversuch) ist durch mehr als 20.000 dokumentierte Sicherheitsgutachten belastbar und in der FLL-Baumuntersuchungsrichtlinie 2013 enthalten. Es ist klar, dass die Verfasser der DIN 19712 von 2013 davon noch nicht profitieren konnten.

Trier

Dort wurde 2019 eine Spundwand am Moselufer eingezogen, um möglichst viele Bäume zu retten (s.: hochwasserschutz-trier.de/baumschutz).

Tausendfach baumbestandene Kanäle und Hochwasserdämme in Europa

Es gibt in Europa seit dem 19. Jahrhundert 42.000 Kilometer lange Wasserstraßen mit Dämmen, häufig schon immer baumbestanden. Häufig sogar mit den größten Laubbäumen Europas: Platanen und Pappeln. Sie finden sich in Großbritannien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Deutschland und Polen.

Ausblick: Interdisziplinärer Austausch zwingend notwendig

DIN-Regelwerke sind rechtlich nur unverbindliche Empfehlungen. Das drückt sich schon allein dadurch aus, dass man niemanden wegen eines fehlerhaften Regelwerks haftbar machen kann. Regelwerke sind auch nicht zwingend wissenschaftlich belastbar. Das zeigen deutlich die Empfehlungen der DIN, an einem Ausschuss gestaltend mitzuwirken: seine Interessen einzubringen, um davon zu profitieren. Da kennt die DIN-Organisation keine Scheu. Logisch, dass das nicht wissenschaftlich fundiert sein muss. Ein Regelwerk kann hilfreich sein, muss es aber nicht.

Bedauerlicherweise nimmt die Verwaltung das oft als unumstößliche Entscheidungsbasis. Bei komplexen Sachverhalten sollten nicht nur einseitig hochqualifizierte Fachleute die Regelwerke schreiben. Nur interdisziplinärer wissenschaftlich belastbarer Austausch (hier von Wasserbauern und ausgewiesenen Baumexperten) vor Regellegung würde dem Sachverhalt Hochwasserschutz und Erholungsfunktion im dicht besiedelten High-Tech-Land Deutschland gerecht werden. Ein Regelwerk sollte nur eine grobe Orientierung sein, das erst durch eine spezielle Expertise den örtlichen Gegebenheiten gerecht werden kann.

Zusammenarbeit dringend erforderlich

Bei Deichen mit Bäumen kommt als Kompromiss häufig der Einsatz einer Spundwand ins Spiel. Allerdings kommt diese unter Umständen wiederum mit den Bäumen in Konflikt. Gleichwohl ist sie eine sichere Lösung gegen ein Durchdringen von Wasser. Vor allem aber ermöglicht sie es, toleranter gegenüber Bäumen zu sein. Nur sollte deren Setzung unter Beratung eines Baumfachmannes erfolgen, der entscheidet, wie viel Wurzelverluste für die betroffenen Bäume noch zuträglich sind. Aber es ist eine technische Lösung, bei der auch der Luftraum zum Beispiel für eine Ramme benötigt wird. In diesem Fall ist manchmal jedoch die Baumkrone im Weg. Besser wäre es, die Fähigkeit von Baumwurzeln zu nutzen, Erdreich zu stabilisieren. Eine interdisziplinäre Vorgehensweise zwischen exponierten Baumfachleuten und Wasserbau-Ingenieuren wäre der Königsweg. Auf Deiche mit Bäumen heruntergebrochen würde das bedeuten:

  • die internationalen Erfahrungen von Deichen und Dämmen mit Bäumen auszuwerten;
  • die modernsten Rechenmethoden inhomogener Stoffe (das Zusammenwirken von druckbelastbarem Boden und zugbelastbaren Baumwurzeln) anzuwenden;
  • die Entwicklung der letzten 30 Jahre in der Sicherheitsdiagnose von Bäumen zu nutzen;
  • die mechanischen Eigenschaften von Baumwurzeln und Deichen noch eingehender zu untersuchen, damit gezielt die geeignetsten Bäume für die Deichbepflanzung ausgewählt werden könnten.

Literatur

(1) Lammerander, W.: Gehölzbewuchs auf Dämmen und Deichen - Dissertation an der Universität für Bodenkultur, Wien, 2013.

(2) Schüttrumpf, H.: Ursachen für Deichbrüche bei den jüngsten Hochwasserereignissen in Süd- und Ostdeutschland, Vortragsausdruck Aachen 2013.

(3) Dujesiefken, K./Hagen, Chr.: Dammsanierung an der Störwasserstraße, Tagung des BUND Mecklenburg-Vorpommern, 7/2019 Ludwigslust.

(4) Wessolly, L./Wagner, B.: Unveröffentlichtes Gutachten zur Deichsicherheit mit Bäumen auf dem Rheindeich Neuss, 2002.

(5) Wessolly, L.: Rosskastanien auf einem Rheindeich: Wechselwirkungen und Sicherheiten. Tagungsband 1. Departmentkongress Bautechnik und Naturgefahren, Wien 2007.

(6) Wessolly, L./Erb, M. Handbuch der Baumstatik und Baumkontrolle, Berlin 2014.

(7) Katzenbach, R./Werner, A. Erhöhung der Standsicherheit von Deichen und Dämmen durch Bewuchs. Tagungsband 1. Departmentkongress Bautechnik und Naturgefahren 2007.

(8) Wikipedia: der Canal du midi.

(9) Bundesanstalt für Gewässerkunde: Der Biologische Wasserbau an den Bundeswasserstraßen, Stuttgart 1964.

(10) BAW Merkblatt. Standsicherheit von Dämmen an Bundeswasserstraßen 2011.

(11) RP Karlsruhe, publizierte Unterlagen einer Veranstaltung vom 14.06.2018 in Mannheim.

(12) Wessolly, L./Rendenbach, A. : Schadensanalyse Platanen im Sommerorkan, pro baum 4/2015.

(13) Kehr, R.: Zehn Jahre Erfahrung mit der Massaria Krankheit, TB 21. Osnabrücker Baumpflegetage 2013.

(14) Florineth, F.: Pflanzen statt Beton, Berlin 2012.

(15) Pflug W./Hacker, E. (Hrsg.): Flussdeiche und Flussdämme, Bewuchs und Standsicherheit, 1999.

(16) Wessolly, L.: 6 unveröffentlichte Gutachten für die Stadt Düsseldorf nach ELA 2014/2015.

(17) Wessolly, L./Rendenbach, A.: Schadensanalyse Platanen im Sommerorkan ELA, pro Baum 4/2015, S. 14 f.

(18) Haselsteiner, R.: Der Bewuchs an und auf Hochwasserschutzdämmen an Fließgewässern aus technischer und naturschutzfachlicher Sicht Conference paper: 2010 Dresdner wasserbauliche Mitteilungen.

(19) Haselsteiner, R.: Bäum an und auf Hochwasserschutzanlagen, Jahrbuch der Baumpflege 2019, S. 40 f.

(20) Wessolly, L.: Fachliche Machbarkeitsanalyse Baumbestand auf dem Rheindeich in Mannheim, Stuttgart 2019.

(21) Dujesiefken, K./Hagen, Chr.: Erhalt von Altbäumen auf Dämmen Jahrbuch der Baumpflege 2019, S. 52 f.

(22) Wessolly, L.: Deichsicherheit erfordert ein Sicherheitsmanagement, Weser Kurier 20.12.2019.

(23) BAW Merkblatt Standsicherheit von Dämmen an Bundeswasserstraßen (MSD) 2011.

(24) FLL-Baumuntersuchungsrichtlinie, Bonn 2013.

(25) Haselsteiner, R./Lammeranner, W.: Ingenieurbiologische Bauweisen an Hochwasserschutzstraßen. Conference paper: 2010 Dresdner wasserbauliche Mitteilungen.

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