Blower-Door-Test für Baumstatikprogramme zur Standsicherheitsbeurteilung

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Blower-Door-Test Baumforschung
Links: Polaroid-Foto zur Windlastermittlung der Stieleiche mit eingezeichneter Windangriffsfläche, unterschieden in Stamm und Krone. Foto: Thomas Sinn
Blower-Door-Test Baumforschung
Windangriffsfläche der Stieleiche mit den Baumdimensionen. Abbildung: Thomas Sinn

Bereits im Jahr 1983 wurde nach den Vorgaben von Günter Sinn † das erste Baumstatikprogramm geschrieben und der Fachwelt vorgestellt (G. Sinn, F. Hund, 1983). Das Baumstatikprogramm der Arbeitsstelle für Baumstatik (AfB) wurde bis heute kontinuierlich an neue Erkenntnisse zur Baumstatik angepasst (z. B. S. Krüger und G. Fritz, 1986, U. Männl 1992, T. Sinn 2010).

Neuentwicklungen anderer Baumstatikprogramme, die seit 2008 vorgestellt wurden, arbeiten mit anderen Auswertungsverfahren. Diese müssen jedoch auch Grenzfälle der Baumbeurteilung abdecken, da Anwender sich auf die Aussagekraft der Auswertungsverfahren verlassen müssen. Im vorliegenden Aufsatz werden besondere Praxisfälle vorgestellt, die Entwicklern von Baumstatikprogrammen helfen können ihre Programme auch auf solche Bäume abzustimmen und Anwender im Umgang damit zu sensibilisieren.

Mit einem Blower-Door-Test (auch Differenzdruck-Messverfahren) wird die Luftdichtheit eines Gebäudes gemessen. Der Test dient vor allem dazu, Lecks in der Gebäudehülle aufzuspüren. Genauso gibt es bei Baumstatikmessungen immer wieder Grenzfälle, die eine gute Baumstatikauswertungs-Software für Standsicherheit abdecken muss. Bekannte Baumstatikprogramme im deutschsprachigen Raum sind außer unserer eigenen Auswertungssoftware stabilitree (Vers. 4.0) vor allem:

  • Inclinomethode (G. Sinn, L. Wessolly, 1989, L. Wessolly, 1998)
  • TreeQuinetic (Argus Electronic, 2008)
  • Tree Stability Evaluation (TSE, B. Siegert, 2010)
  • Arbostat (A. Detter, S. Rust, 2013)

Nachfolgend werden aus dem Baumstatikarchiv der AfB, das bis in das Jahr 1980 zurückdatiert, Zugmessdaten folgender Grenzfälle vorgestellt:

Umgestürzte Stieleiche

  • Bei Windstärke 11 bis 12 belaubt umgestürzte Alteiche
  • Kleinerer standsicherer Baum
  • Extreme Abgrabung an Eiche, Zugmessdaten in zwei Richtungen.

Immer wieder habe ich vor allem bei Nachmessungen an mehr als 150 Jahre alten Stiel- und Traubeneichen (bot. Quercus robur/Quercus petraea) festgestellt, dass sie mit zunehmenden Alter ab Beginn der Stagnationsphase zunehmend sicherer schienen. Das liegt vor allem daran, dass sie ab da immer kleinere Jahrringe ausbilden. Dadurch ändern sich die Materialeigenschaften. Der Baum wird immer steifer und erscheint bei Dehnungsmessungen zunehmend sicherer. Vergleichbare Prozesse werden dann auch im Wurzelwerk wirksam. Der Baum erscheint zunehmend sicherer. Das Ganze korreliert auch noch mit den zunehmenden Widerstandsmomenten.

Im vorliegenden Fall war eine als Naturdenkmal ausgewiesene, belaubte Stieleiche in einem Gewittersturm mit Windstärke 10, in Böen 11 bis 12 umgestürzt. Nach Mitteilung eines Anwohners hatte der Baum in einer Windböe versagt.

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Blower-Door-Test Baumforschung
Vollständig ausgefaulter Wurzelstock an der umgestürzten Stieleiche. Foto: Thomas Sinn

Die Baumdaten: Baumhöhe 20,8 Meter, Stammumfang in ca. 1,3 Meter Höhe 4,32 Meter. H/D-Wert 15. Messdaten: Ortshöhe 220 Meter. Windexponierter Standort (alpha 0,16). Seilanschlaghöhe 7,3 Meter. Horizontale Entfernung Seilanschlag/Widerlager 16,5 Meter. Widerlagerhöhe 0,90 Meter. Direkter Zug (keine Umlenkrolle), Messgerätehöhe 0,15 Meter.

Last- und Neigungsschritte: 420 kg = 0,005 Grad, 800 kg = 0,01 Grad, 1200 kg = 0,01 Grad, 1600 kg = 0,02 Grad, 2000 kg = 0,025 Grad, 2400 kg = 0,03 Grad, 2800 kg = 0,04 Grad und 3200 kg = 0,05 Grad Neigung.

Eine Auswertung mit unserem Baumstatikprogramm ergibt unter Berücksichtigung eines auf die Wuchsform (Stammdicke/Widerstandsmoment) abgestimmten Sicherheitsabstandes von 44 Prozent nur noch die grenzwertige Standsicherheit des Baumes (Standsicherheitsklasse 5), das heißt, er wäre als Problembaum erkannt worden. Dennoch weist er ein für kippgefährdete Bäume untypisches, fast schon gutmütiges Neigungsverhalten auf, das manche Auswertungssoftware an ihre Grenzen bringen dürfte. In diesem Fall könnte das bedeuten, dass der tatsächlich kippgefährdete Baum mit einem anderen Auswertungsverfahren als standsicher diagnostiziert würde.

Kleinerer standsicherer Baum

Es ist nicht schwer, einen Baum standunsicher zu messen (außer vielleicht im ersten Beispiel der alten Eiche). Meines Wissens arbeiten alle anderen Baumstatikprogramme zur Standsicherheitsbeurteilung von Bäumen mit einem pauschalen 1,5-fachen Sicherheitszuschlag. Das kann schnell dazu führen, dass noch etwas jüngere Bäume zu unsicher beurteilt werden, denn diese wachsen auch im Freistand nahe der Grenzgröße der Stabilität, zumindest bis zum Erreichen der Reifephase.

Ein gutes Auswertungsprogramm muss aber sowohl tatsächlich unsichere Bäume erkennen können als auch natürlich sichere Bäume, die dann kompromisslos unbeschnitten stehen bleiben. Im vorliegenden Fall war im Innenstadtbereich ein Baum mit Statik relevanten Wurzelschäden ohne Symptombildungen umgestürzt. Daraufhin wurden Nachbarbäume Statik integriert messtechnisch auf ihre Standsicherheit geprüft.

Die Baumdaten: Baumhöhe 13,2 Meter, Stammumfang in ca. 1,3 Meter Höhe 1,19 Meter. H/D-Wert 35. Windlastmoment 71 kNm. Messdaten: Ortshöhe 100 Meter. Standortfaktor alpha 0,22. Seilanschlaghöhe 4,83 Meter. Horizontale Entfernung Seilanschlag/Widerlager 16,7 Meter. Widerlagerhöhe 0,68 Meter. Direkter Zug (keine Umlenkrolle), Messgerätehöhe 0,06 Meter.

Last- und Neigungsschritte: 100 kg = 0,03 Grad, 210 kg = 0,06 Grad, 350 kg = 0,10 Grad, 400 kg = 0,12 Grad, 500 kg = 0,16 Grad Neigung.

Unsere Auswertung ergab die Standsicherheit des Baumes (Standsicherheitsklasse 2). Er steht unbeschnitten noch heute.

Blower-Door-Test Baumforschung
Sofortbild zur Windlastermittlung eines benachbarten Bergahornbaumes mit der eingezeichneten Baumkontur. Foto: Thomas Sinn
Blower-Door-Test Baumforschung
Robinienaltbaum in rechteckiger Baumscheibe, Straße davor erneuert, zahlreiche Leitungstrassen im Gehweg dahinter, ungestörte Wurzelentwicklung nur in Längsrichtung der Baumscheibe möglich. Foto: Thomas Sinn

Neigungsmessdaten in zwei Zugrichtungen

Ein regelrechter Dauerbrenner bei Zugmessungen ist die Frage, ob denn nicht zumindest in zwei Richtungen gezogen werden muss. Nein, bei dem Auswertungsverfahren der AfB-Methode muss das nicht sein. Richtig ist, in Zugrichtung von einer Statik relevanten Abgrabung fort weist ein Baum in der Regel höhere Neigungswerte auf (d. h. er wird unsicherer beurteilt) als auf die Abgrabung zu. Das gleiche gilt für langgezogene rechteckige Baumscheiben an Straßen, bei denen sich das Wurzelwerk in entsprechender Ausrichtung orientiert beziehungsweise quer dazu abgegraben ist (siehe beispielhaft den hier aufgeführten Praxisfall Robinie an Stadtstraße). Beim Zug in Längsrichtung ergeben sich dann geringere Neigungen als quer dazu. Das Fazit aus vielen Zugversuchen in zwei Richtungen an Bäumen mit den genannten Charakteristika ist, dass Abweichungen von bis zu einer Standsicherheitsklasse möglich sind, was aber für Standsicherheitsbeurteilungen mit unserem Baumstatikprogramm weitgehend ohne Bedeutung ist.

Eine Ausnahme gab es nur einmal bisher, natürlich wieder ein Extremfall (leider fanden sich keine Bilder mehr dazu im mittlerweile digitalisierten Archiv der AfB): Auf einem Friedhof wurde für den Aushub eines Grabes eine Stieleiche abgegraben. Da das Grabfeld bis unmittelbar an den Stamm des Baumes reichte, wurde sogar der dort vorhandene Starkwurzelanlauf in Höhe des Stammmantels mit einer Motorsäge gekappt. Erst dann konnte der Kleinbagger die entsprechende Aushubtiefe realisieren. Nach dieser "Operation" war der Altbaum im Wurzelwerk regelrecht halbiert.

Das Windlastmoment des 18,7 Meter hohen Baumes betrug 361 kNm, die Höhe des Windlastschwerpunktes 10,93 Meter.

Seilanschlaghöhe 4,35 Meter. Horizontale Entfernung Seilanschlag/Widerlager 18,5 Meter. Widerlagerhöhe + Böschungshöhe 0 Meter. Direkter Zug (keine Umlenkrolle), Messgerätehöhe 0,10 Meter.

Belastung von der Abgrabung fort

Last- und Neigungsschritte: 382 kg = 0,015 Grad, 764 kg = 0,04 Grad, 1146 kg = 0,07 Grad, 1527 kg = 0,09 Grad, 1909 kg = 0,12 Grad, 2291 kg = 0,16 Grad und 2673 kg = 0,20 Grad Neigung.

Die Auswertung ergab die grenzwertige Standsicherheit des Baumes (Standsicherheitsklasse 5).

Belastung auf die Abgrabung zu

Last- und Neigungsschritte: 389 kg = 0,015 Grad, 778 kg = 0,025 Grad, 1167 kg = 0,40 Grad, 1556 kg = 0,055 Grad, 1953 kg = 0,80 Grad, 2334 kg = 0,10 Grad und 2723 kg = 0,12 Grad Neigung.

Die Auswertung ergab die Standsicherheit des Baumes (Standsicherheitsklasse 2). Anhand dieser Messdaten aus der Praxis kann jeder Anwender das eigene Statikprogramm auf mögliche bewertungstechnische Leckdaten prüfen und es einem Blower-Door-Test unterziehen.

Für die Standsicherheit, das heißt die Sicherheit gegen das Ausheben des gesamten Baumes aus seiner Bettung, gilt das Prinzip des Gleichgewichtes von Kraft und Gegenkraft.

Der von außen auf den Baum treffenden Windkraft wirkt die Eigengewichts- und Verankerungskraft entgegen. Der gesunde, freistehende Baum ist in der Regel mit dem Boden, auf dem er wächst, so verwurzelt, dass er selbst orkanartigen Stürmen, über Windstärke 12 hinaus, widersteht. Baum und Boden sind untrennbar miteinander verbunden. Labile Zustände entstehen durch Defekte (Eingriffe, Fäulnis, extreme Vernässung) im Verankerungssystem, das heißt der Boden-Wurzelmatrix.

Das Verhältnis der Neigung des Baumes zur einwirkenden äußeren Kraft (Wind) ist ein sensibler Gradmesser der Stabilität. Höhere Neigung, bei gleicher Krafteinwirkung, bedeutet stärkere Ungleichgewichtigkeit zwischen Windlast sowie Gewichts- und Haltekraft, bis hin zur Kippgefährdung.

Mit unserer Auswertungssoftware erfolgt die Neigungskurveninterpretation und Hochrechnung von Messwerten auf der Grundlage eines eigens aus der empirischen Messdaten-Analyse entwickelten Rechenmodelles, das sich auf die Neigungszunahme pro Zugkrafteinheit bezieht. Das hat sich bis heute als sehr zuverlässig erwiesen, wenn bis zumindest 30 Prozent der Orkanwindlast gezogen wird. Als Kippgefahrengrenze wurde der Zustand bestimmt, bei dem irreversible Schäden in der Wurzel-Boden-Matrix auftreten, also der Kippvorgang beginnt.

Blower-Door-Test Baumforschung
Robinie, Belastungsrichtung längs der Baumscheibe, noch standsicher (Standsicherheitsklasse 3). Abbildung: Thomas Sinn
Blower-Door-Test Baumforschung
Robinie, Belastungsrichtung quer zur Baumscheibe, derzeit noch standsicher (Standsicherheitsklasse 4). Abbildung: Thomas Sinn

Auf den in den Anfangszeiten der Baumstatik geforderten pauschalen 1,5-fachen Sicherheitszuschlag kann somit verzichtet werden. Allerdings verändert sich ab Stammdurchmessern von 0,8 Meter das Neigungsverhalten von Bäumen zunehmend, vor allem aufgrund der mitBaumdicke zunehmenden Widerstandsmomente. Deshalb ist in diesen Fällen bei der Aussage zur Standsicherheit ein nach Stammdicke gestaffelter Sicherheitsabstand bis hin zu einem 2-fachen Sicherheitszuschlag erforderlich. Außerdem erfolgt eine Einteilung in Standsicherheitsklassen.


Die Standsicherheitsklassen bedeuten:

  • Standsicherheitsklasse 1: Kraft-Neigungskurve sehr flach, das heißt zurzeit hochgradige Standsicherheit.
  • Standsicherheitsklasse 2: Kraft-Neigungskurve relativ flach ansteigend, das heißt, Standsicherheit etwas geringer als unter 1, jedoch ausreichende Sicherheitsreserven, standsicher.
  • Standsicherheitsklasse 3: Kraft-Neigungskurve ansteigend, das heißt noch standsicher.
  • Standsicherheitsklasse 4: Kraft-Neigungskurve steiler ansteigend, das heißt derzeit noch standsicher.
  • Standsicherheitsklasse 5: Kraft-Neigungskurve noch steiler ansteigend, das heißt grenzwertig standsicher.
  • Standsicherheitsklasse 6: Kraft-Neigungskurve steil ansteigend, nicht mehr standsicher, Kippgefahr.



LITERATUR

Detter, A. und S. Rust: Aktuelle Ergebnisse zur Zugversuchsmethode. Jahrbuch der Baumpflege (2013).

Männl, U.: Analyse der Standsicherheit von Bäumen. Das Gartenamt 6 (1992).

Siegert, B.: Das Rechenprogramm TSE, Stand- und Bruchsicherheit von Bäumen online berechnen. AFZ 24 (2010).

Sinn, G. und F. Hund: Statik von Bäumen - Möglichkeiten der Berechnung der Standsicherheit. Lösung über Rechnerprogramm. Vortrag Bad Godesberger Gehölzseminar Mai 1983.

Sinn, G. und L. Wessolly: Baumstatik - zwei neue zerstörungsfreie Meßverfahren. Das Gartenamt 38 (1989) Juli und August.

Sinn, G. und U. Männl: Methodische Verbesserungen und neue Meßgeräte zur Standsicherheitsüberprüfung von Bäumen. DAS GARTENAMT 39 (1990) September.

Sinn, Th.: Arbeitsunterlagen (2010) für den AK "Baumpflege/Baumkontrollen" (für Baumuntersuchungsrichtlinien der FLL, 2013).

Sinn, Th.: Sachstand zum cw-Wert von Bäumen. ProBaum 2 (2017).

Wessolly, L.: Handbuch der Baumstatik und Baumkontrolle. Patzer Verlag (1998).

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