Regenerationsstufen: Beurteilung von stark eingekürzten Linden, Einschätzung ihrer weiteren Entwicklung und Handlungsempfehlungen
von: Prof. Dr. Andreas RoloffFür eine sinnvolle Interpretation der Vitalitätsbeurteilung ist das Baumalter zu berücksichtigen. Dies hat zur Folge, dass die vermeintlich schlechten Vitalitätsstufen VS 2 und VS 3 in hohem Alter der Normalzustand sein können und nichts Besorgniserregendes sein müssen.
Mit der bekannten Vitalitätsbeurteilung anhand der Verzweigungsstrukturen (Roloff 2001) ist allerdings eine Abschätzung zur Lebenserwartung und Reststandzeit von Altbäumen nur eingeschränkt möglich, dies wird gelegentlich erwartet beziehungsweise missverstanden oder falsch interpretiert (Weihs 2016). Mit einer Einbeziehung des Alters in die Methode (Roloff 2015, 2016 a-d, 2017) wurde aber bereits deutlich gemacht, dass eine solche Interpretation möglich und praktikabel ist. Sie wird derzeit in der Baumkontrollpraxis eingeführt.
Im Folgenden soll nun ein Verfahren vorgestellt werden für eine Abschätzung der zukünftigen Entwicklung bei stark eingekürzten Linden, wie sie in der Stadt weit verbreitet zu finden sind oder gelegentlich auch naturbedingt auftreten, zum Beispiel nach einem extremen Sturmereignis oder Eisanhang. Für solche Bäume ist eine Beurteilung ihres Wuchspotenzials anhand der Vitalitätsstufen nicht möglich (Roloff 2015), da der Wiederaustrieb in den ersten fünf bis zehn Jahren nach der Maßnahme/dem Ereignis anderen Regeln folgt.
Beurteilung stark eingekürzter Bäume
Wenn es hier nun im Folgenden um stark eingekürzte oder sogar stämmlingsgekappte Bäume geht, darf dies nicht dahingehend missverstanden werden, dass jetzt Stämmlingskappungen akzeptabel sein sollen - aber es gibt davon so viele Stadtbäume (vor allem Linden, Abb. 1), dass man sie auch nicht übersehen beziehungsweise übergehen kann. Es soll hiermit gerade die problematische Entwicklung und abweichende Vitalitätsansprache sowie der besondere Status dieser Bäume verdeutlicht werden. Aus einer Abschätzung der zukünftigen Entwicklung kann sich dann der weitere Umgang mit diesen (oft alten) Bäumen ergeben.
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Dies ist grundsätzlich zu unterscheiden von der Vitalitätsinterpretation eines Absterbens von Wipfelästen der VS 3, wie es alters- oder stressbedingt auftritt und gegebenenfalls zu Schnittmaßnahmen des Retrenchment Pruning führen kann, welches in Großbritannien propagiert wird (Fay 2015, Gilman 2012, Lonsdale 2014, Read 2000).
Kroneneinkürzungen sind nach ZTV (FLL 2017: S. 36, 57) folgendermaßen definiert: "Einkürzung der gesamten Krone oder von Kronenteilen entsprechend den Erfordernissen der Verkehrssicherheit und/oder des Baumumfeldes bis Grobaststärke."
Stämmlingskappungen, das heißt das starke Einkürzen/Absetzen der Krone bis in den Stämmlingsbereich, gelten nach alter und neuer ZTV (FLL 2006, 2017) als nicht fachgerechte, baumzerstörende Maßnahme. Sie wurden relativ häufig an Stadt- und besonders an Straßenbäumen vorgenommen, wenn diese "gefühlt" zu groß werden, zu viel Schatten werfen oder die Sorgen vor Verkehrssicherheits-Problemen zunehmen. Manchmal entstehen sie auch einfach bei der Wahl des billigsten Anbieters, oder es soll die Baumschutzsatzung umgangen werden (da die Bäume bei solchen Schnittmaßnahmen nicht gefällt werden). Die Häufigkeit von erfolgten Stämmlingskappungen im Siedlungsbereich ist beeindruckend (z. T. an über 50 % der älteren Linden in einzelnen Stadtteilen, bis zu 100 % in einzelnen Straßen oder Garten- und Parkanlagen). Dies macht deutlich, dass sie offenbar verbreitet als notwendig oder sinnvoll erachtet wurden. Man kann sie daher nicht übergehen, wenn es um die Einschätzung der weiteren Entwicklung und entstehende Risiken dieser Bäume geht, zum Beispiel bei der Baumkontrolle.
Im Folgenden werden daher im Unterschied bzw. als Ergänzung zu den bekannten vier Vitalitätsstufen (VS 0-3 für Bäume mit weitgehend ungestörter Entwicklung) vier Regenerationsstufen (RS 0-3) für stark eingekürzte Linden vorgestellt (Tab. 1 und Abb. 2, 3). Dabei soll der Begriff Regeneration deutlich machen, dass diese starken Eingriffe meist Reaktionen der betroffenen Bäume hervorrufen, die der Kompensation der Astverluste und Schäden dienen. In der Regel folgen darauf langfristige Probleme und Pflegebedarf bei der weiteren Baumentwicklung mit entsprechend höheren Kosten.
Als Ausgangszustand der obigen Abbildung 2 wurde absichtlich eine unbehandelte Linde der VS 2 gewählt, weil dies deutlich machen soll, dass selbst ein Baum der vermeintlich schlechten VS 2 nach einem nicht fachgerechten kappungsähnlichem Rückschnitt noch entsprechendes Potenzial für eine gute Regeneration (RS 1) haben kann, natürlich mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit als für RS 2 oder 3.
Eine Beurteilung mit diesem neuen RS-Schlüssel soll frühestens nach zwei Vegetationsperioden nach der Maßnahme erfolgen, um den Bäumen ausreichend Zeit für Reaktionen zu geben und nicht voreilig zu entscheiden. Der Grund dafür ist, dass die Regeneration verzögert erst im zweiten Jahr nach dem Schnitt einsetzen kann oder nach einem schnellen Wiederaustrieb ein Teil der Zweige dann doch wieder abstirbt (relativ häufig bei Pappeln, die hier nicht behandelt werden). Möglichst soll die Beurteilung aber bis fünf Jahre nach der Maßnahme durchgeführt werden, da man danach vom Boden aus immer schwieriger die neu ausgetriebenen Triebe (grüne Zweige in Abb. 2, auf die es bei der Beurteilung entscheidend ankommt) von den schon vor dem Schnitt vorhanden gewesenen Zweigen unterscheiden kann.
Nachfolgend werden in Tabelle 2 Angaben zur zukünftigen Entwicklung der Regenerationsstufen an Linden gemacht und Handlungsempfehlungen gegeben.
Die nach Einkürzungen oder Stämmlingskappungen erforderlichen Pflegemaßnahmen sind in der Regel eine langfristige und kostenintensive Daueraufgabe (Abb. 4, 5): bei RS 1 Ständervereinzelung und -einkürzung (FLL 2017, Klug 2016, Roloff & Dujesiefken 2003, Weiß 2016), bei RS 2-3 zusätzlich Totholzbeseitigung. Unterbleiben sie, kommt es bald zu Bruchrisiken der Ständer und Stämmlinge. Stämmlingsgekappte Bäume haben zudem meist eine (deutlich) kürzere Lebenserwartung als fachgerecht geschnittene und erreichen zum Teil (in RS 1) schon nach wenigen Jahren fast wieder die vorherige Baumhöhe und damit auch Windlast. Der erwartete "Erfolg" - das Ziel kleinerer Bäume - ist daher oft nur von vorübergehender Dauer, die langfristigen Pflegekosten und -probleme jedoch sind erheblich.
Nach weiterer Prüfung der Methode an Linden und Einarbeiten von Rückmeldungen aus der Praxis zu diesem Konzept - mit dem Ziel: möglichst viele alte Bäume zu erhalten - soll dann als ein nächster Schritt die Überprüfung an anderen Laubbaumarten erfolgen. Es kann schon jetzt festgestellt werden, dass zumindest viele Ahorne, Eichen, Platanen und Rosskastanien ähnlich auf starke Kroneneinkürzungen reagieren.
Schlussfolgerungen
In diesem Beitrag wird auf den weit verbreiteten "Sonderfall" von Bäumen mit nicht fachgerechten starken Einkürzungen und Stämmlingskappungen eingegangen und ein Ansatz für die Abschätzung der weiteren Entwicklung mit Hilfe von Regerationsstufen vorgestellt. Aus der Darstellung wird zunächst einmal deutlich, dass mit starken Kroneneinkürzungen und Stämmlingskappungen ("Stummelschnitt") fast immer anschließend ein langfristig hoher Pflegebedarf einhergeht (Klug 2016, Roloff & Dujesiefken 2003, Weiß 2016 a, b), der entsprechend dauerhaft hohe Kosten verursacht. Daher ist die scheinbar billigste nicht fachgerechte Kroneneinkürzung oder gar Stämmlingskappung in der Regel mittelfristig meist die teuerste Schnittmaßnahme. Oft wird das Ziel der Kronenverkleinerung zudem nur vorübergehend erreicht, da die gegebenenfalls positive Regeneration durch starken wipfelnahen Wiederaustrieb zeitnah fast zum Wiedererreichen der ursprünglichen Baumhöhe führen kann. Dies lässt sich grundsätzlich nur durch eine fachgerechte Kroneneinkürzung mit Versorgungsästen (RS0) verhindern oder bereits vor der Pflanzung durch Verwendung kleinerer Baumarten, die dann später keine Einkürzung provozieren.
Mit den vorgestellten Regenerationsstufen wird auch eine Diskussion des Umgangs mit solchen verstümmelten Bäumen erleichtert, um daraus ggf. das weiteren Vorgehen abzuleiten, oft eine Stämmlingsvereinzelung und -einkürzung. Auf diese Weise können solche meist älteren Bäume oft fachgerecht noch für lange Zeit verkehrssicher erhalten werden und ihre Funktionen erfüllen.
Literatur
Fay, N. (2015): Der richtige Umgang mit uralten Bäumen: Archebäume und Baumveteranen. Jahrbuch für Baumpflege 2015: 181-197.
FLL (Hrsg.) (2017): Zusätzliche Technische Vertragsbedingungen und Richtlinien für die Baumpflege, "ZTV-Baumpflege". Forschungsgesellschaft Landschaftsentwicklung Landschaftsbau e. V., Bonn.
Gilman, E. F. (2012): An Illustrated Guide to Pruning. Delmar, Clifton Park (USA).
Klug, P. (2016): Kronenschnitt an Bäumen. Arbus-Verlag, Gammelshausen.
Lonsdale, D. (ed.) (2013): Ancient and Other Veteran Trees - Further Guidance on Management. Severnprint, Gloucester, UK.
Read, H. (2000): Veteran Trees - a Guide to Good management. English Nature, Birmingham.
Roloff, A. (2001): Baumkronen - Verständnis und praktische Bedeutung eines komplexen Naturphänomens. Verlag E. Ulmer, Stuttgart.
Roloff, A. (2015): Aktuelles zur Vitalitätsbeurteilung von Stadtbäumen anhand der Kronenstruktur - Erfahrungen und Konsequenzen. Jahrbuch der Baumpflege 2015: 125-133. Braunschweig.
Roloff, A. (2016a): Wann ist ein Baum ein Baum? Wie verläuft der Alterungsprozess und was sind die Folgen für die Vitalitäts-Interpretation? Jahrbuch der Baumpflege 2016: 163-175. Haymarket Media, Braunschweig.
Roloff, A. (2016b): Replik: Vitalitätsstufen-Interpretation im Fokus. ProBaum 4: 7-10.
Roloff, A. (2016c): Wie verläuft der Alterungsprozess bei Bäumen - und welche Folgen hat das für die Vitalitäts-Interpretation? ProBaum 3: 2-6.
Roloff, A. (2016d): Die Vitalität alter Bäume richtig interpretieren. BaumZeitg. 6: 34-38.
Roloff, A. (2017): Interpretation der Vitalitätserhebung unter Berücksichtigung der Baumalterung und vorangegangener Kroneneinkürzungen. Forstwiss. Beitr. Tharandt/Contrib. For. Sc., Beih. 19: 135-155.
Roloff, A.; Dujesiefken, D. (2003): Zum Umgang mit ehemals gekappten Linden. Jahrbuch der Baumpflege 2003: 103-112. Haymarket Media, Braunschweig.
Weihs, U. (2016): Status quo der Vitalitätsbeurteilung von alten Bäumen - Eine kritische Reflexion. ProBaum 4: 2-6.
Weiß, H. (2016a): Kappungen: Baumpflege oder Baumzerstörung? Allg. Forstztschr./Der Wald 24: 33-35.
Weiß, H. (2016b): Kappungen und ihre Konsequenzen für Baumbiologie und -statik. Jahrbuch der Baumpflege 2016: 32-50. Haymarket Media, Braunschweig.