Klimawandel: Rezepte für die Zukunft
von: Dr. Reinhard WittDer Klimawandel bewegt gerade viel. In den Köpfen und in der Praxis. Es wird angestrengt nachgedacht. Es werden Listen von wärmetauglichen exotischen Stauden und Gehölzen ausprobiert. Dabei könnten wir viel entspannter mit dem Thema umgehen, wenn wir uns für die Zukunft einige neue Grundsätze zulegen beziehungsweise alte strenger beachten. Nur so werden unsere Projekte auch zukünftig Erfolg haben können
Aus unserer Praxis in verschiedenen klimatisch sehr unterschiedlichen Regionen in Deutschland und Österreich haben sich zehn Grundsätze herauskristallisiert, die sehr hilfreich für die Anpassung an die Klimakrise sein können. Sie sollen im Folgenden vorgestellt werden:
- Megaprinzip heimisch,
- Florenerweiterungen nach Osten und Süden,
- Genetische Variabilität,
- Lebensprinzip Vielfalt,
- alle Lebensformen,
- alle Strategietypen,
- breites Ansaatspektrum,
- Samenbank aufbauen,
- Vernetzung von Lebensräumen schaffen,
- nicht mehr humusieren,
- Offenheit.
Megaprinzip heimisch
Zierpflanzen aus allen Teilen der Welt schneiden unter Extrembelastung (große Hitze, wenig Wasser) oft nicht so gut ab. Das gilt sogar für Sorten heimischer Arten wie auch für Hybriden zwischen den Arten. Viele Zierpflanzen fallen sogar ganz aus, da sie sich nicht natürlich vermehren und anpassen können. Da es in Zukunft nicht mehr möglich sein wird, alles ausreichend zu gießen, weil das Wasser abgestellt sein wird, reißt der Klimawandel große Lücken. Nur die echte, reine Wildform der Wildpflanzen Mitteleuropas hat Chancen im Klimawandel. Bei uns wächst schon eine beeindruckende Menge von klimatauglichen Arten. Alles andere führt auf Dauer zu Frustration und Misserfolgen. Bleiben Sie dem Prinzip Evolution treu. Über das Schlüssel-Schloss-Prinzip versorgen wir automatisch daran angepasste Tiere.
Florenerweiterungen nach Südosten und Süden
Ergänzungen aus benachbarten Florengebieten können die Resilienz unserer Pflanzungen und Ansaaten noch erhöhen. Indem wir in der geographischen, natürlichen Wanderbewegung mitteleuropäischer Tier- und Pflanzenarten bleiben, können wir sicherstellen, dass auch die Tierwelt den Wechsel verkraftet. Also kein Nordamerika und Asien im naturnahen Grün, dafür mehr Süd- und Südosteuropa. Das ist ein verträglicher Wandel. Alle nicht heimischen Wildarten, die weit entfernt von uns vorkommen, schließen hingegen nicht nur die ca. 10 Prozent der blütenbesuchenden, pflanzenfressenden, heimischen Insekten aus, sondern eben genau die essentiellen 90 Prozent der blattfressenden Insekten. Jeder Quadratmeter Staudenbeet mit Präriestauden aus Nordamerika trägt also zum Artensterben bei.
Genetische Variabilität
Mit der Verwendung aus geografischen Herkunftsgebieten stammender Arten (Stichwort autochthon) sichern wir ebenso die nötige genetische Breite der Arten. Neue Anpassungsleistungen verlangen Flexibilität im Erbgut. Das funktioniert am besten über natürliche vorkommende Ökotypen mit ihren genetischen Spezialanpassungen. Das bedeutet zum Beispiel bei der Konzeption von Ansaatmischungen und Pflanzplänen für Stauden und Gehölze ausschließlich oder überwiegend heimische Wildpflanzen. Dazu, wo immer möglich, gebietsheimisches Saatgut. Falls nicht heimische Arten dabei sein sollen, dann wenigstens die Wildform davon einplanen, denn diese ist genetisch noch am anpassungsfähigsten. Doch sollten wir nicht so weit gehen und nur gebietsheimisches Saatgut im Siedlungsbereich verwenden. Das wäre aus anderen Gründen kontraproduktiv.
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Lebensprinzip Vielfalt
Monotone Systeme sind über kurz oder lang auf Absturz programmiert. Geringfügige Abweichungen der Umweltbedingungen bringen sie über ihre Grenzen. Massenhaft auftretende Schädlinge (Eichenprozessionsspinner oder Borkenkäfer) radieren Baumplantagen aus, Maiszünsler Maisfelder. Vielfältige Ökosysteme sind hingegen stabiler und besser gegen Katastrophen gewappnet. Da mögen kurzzeitig einzelne Mitspieler ausfallen, aber der Rest macht weiter. Übersetzt auf unser Tun in Gärten, Grünflächen, Firmengeländen und wo auch immer, heißt das: Eine möglichst große Zahl von Wildpflanzenarten planen.
Alle Lebensformen
Für Naturgärtner ist das nichts Neues, aber das Hauptprinzip einer lebendigen Dynamik und Entwicklung. Ein- und zweijährige Kräuter, dauerhafte Stauden, kleine und große, kurzlebige und langlebige Gehölze, Zwiebeln und Knollen, Gräser, Moose, Flechten. Nur so entstehen belastbare Ökosysteme. Das wäre das Kapital für die Zukunft.
Alle Strategietypen
Die Schnellen und die Langsamen, die Starken und Schwachen, die Spezialisten und die Generalisten: Nur mit der Vielfalt der Strategietypen gelingt das Ganze zu erhalten. Je nach Situation, Belastung und Zeit sind die einen wichtiger, später dann andere. Nur zusammen sind sie stark. Das alles sollte künftig bei der Planung bestimmter Standorte wie etwa einer Magerwiese bedacht werden.
Breites Artenspektrum
Aus dem Lebensprinzip Vielfalt, der Verwendung aller Lebensformen und aller Strategietypen resultiert das automatisch. Die Breite des Artenspektrums sichert den Gang in die Zukunft. Warum wir keine perfekt auf den Standort passende Mischungen wählen, hat drei Gründe. Die Lösung liegt im Prinzip auf der Hand beziehungsweise in der Auswahl der Samentüte. Erstens kennen wir die Eigenschaften des Standortes nie hundertprozentig. Zweitens wissen wir zu wenig über die mit der Aussaat beginnende Dynamik. Und drittens kann sich der Standort, zum Beispiel jetzt durch ein heißeres Klima, jederzeit verändern. Aus diesem Grund ist der nächste wichtige Punkt: eine möglichst große Artenvielfalt in der Staudenpflanzung und bei der Gehölzwahl. Auch hier gilt es neu zu lernen. Zeichneten sich naturnahe Grünplaner noch vor Jahren dadurch aus, dass sie genau die passenden Pflanzen für diesen einen Standort suchten (und auch fanden), müssen sie heute weiterdenken. Wir wissen in Jahren der Extreme nicht mehr wirklich, was passiert, deshalb bereiten wir uns mit breiter aufgestellten Rezepten auf Unwägbarkeiten vor. Die Pflanzenliste muss auch dann noch passen, wenn es wärmer wird, aber auch für kühlere und vielleicht sogar feuchte Jahre stimmen.
Samenbank aufbauen
Das ist eine zentrale Aufgabe der Zukunft. Den Anforderungen des Klimawandels begegnen wir nur mit dem Aufbau einer reaktionsfähigen Samenbank aus heimischen Arten. Wir müssen sie etablieren, schätzen und schützen. An jedem Ort dieses Landes sollte im Prinzip eine natürliche Selbstbegrünung mit heimischen Wildpflanzen möglich sein.
Vernetzung von Lebensräumen schaffen
Ein zentraler Punkt für Planer: Jeder Quadratmeter zählt. Viele kleine Ecken und Eckchen sind nicht minder wertvoll als große Flächen. Gestalten wir unsere öffentlichen Grünflächen nach dem Haarer Modell: Im Prinzip könnten im Siedlungsraum und in freier Landschaft eine vielfache Menge an Flächen mit Wildpflanzen bewachsen sein. Wir müssen nur das Sauberkeitsdenken und manche andere Dogmen ändern. Rasenflächen möchten blumig sein, Straßenrandgrün ebenso, Feldwegränder dürfen wieder blühen. Vision: Nicht nur jeder Quadratmeter soll zählen und sich über viele kleine und große Biotopstrittsteine zu einem umfassenden Netz von Wildpflanzen verbinden. Im Prinzrip sollte es nach der Wildpflanzenrevolution hierzulande möglich sein, in meistens zehn, höchstens aber 50 m Entfernung einen Pool heimischer Wildpflanzen stehen zu haben. Als genetisches Reservoir für neue Flächen und generell als offenes Spielmaterial der Zukunft.
Nicht mehr humusieren
Die Zukunft braucht Vielfalt und Wildpflanzen. Die technokratisch bedingte Standardisierung unserer Welt - und vor allem der Landschaft muss gestoppt werden. Die Verkehrsplaner müssen sofort aufhören, nach immer dem gleichen Schema eine Normlandschaft über Europa zu legen, in deren Mischungen, Hochzuchtgräser und anderes Unangepasste dominieren und natürliche Vielfalt ruinieren. Ein kleines Detail hierbei betrifft den Mutterbodenauftrag auf jede Art von Boden am Ende vieler Baumaßnahmen. Legen wir die Humusierung von Straßenrändern, Baugebieten, Autobahnböschungen und Eisenbahndämmen ad acta. Beenden wir die klassische Oberbodenverwendung für Versickerungsmulden. Lassen wir Rohböden stehen und warten auf die regionale Vielfalt heimischer Wildpflanzen aus nächster Nähe. Sie sind die besseren Planer einer lebendigen Welt.
Offenheit für Neues
Das ist ebenso eine unabdingbare Voraussetzung. Nicht an alten, überholten Bildern festhalten. Die Zukunft verlangt sehr viel Mut von uns, und eine große Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen. Die natürliche Dynamik wird uns in Bereiche mitnehmen, wo es schwerfällt mitzukommen. Vieles wird fremd sein, anstrengend und mühsam. Fehler werden sich kaum vermeiden lassen. Finden wir nicht nur die Zeit, sondern auch die Geduld, die kommende Veränderung als Chance zu begreifen. In jedem Ende steckt ein neuer Anfang. Akzeptieren wir das Unvermeidliche und machen das Beste daraus. Wie die neuen Bilder aussehen werden, weiß nur die Zukunft.
Buchtipp
- Witt/Kaltofen: Klimawandel - Fluch oder Chance? Naturgarten Verlag, 2020.
- Witt: Nachhaltige Pflanzungen und Ansaaten. Kräuter, Stauden und Sträucher. 5. Auflage, Naturgarten Verlag, 2020.
- Witt: Das Haarer Modell. Naturnahes öffentliches Grün. Mehr Wildblumen durch richtige Pflege. Naturgarten Verlag, 2019.
Spezielle Fachtagung
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